Morgens halb zehn in Deutschland: Wo es normalerweise summt und brummt wie in einem Bienenschlag herrscht zurzeit relative Ruhe. In den vier Werkstätten der Behindertenhilfe Wetteraukreis gGmbH (bhw) ist nicht viel los. Die Mitarbeiter, allesamt Menschen mit einer geistigen Behinderung, dürfen die Werkstätten seit inzwischen vier Wochen nicht betreten. Das hat die Landesregierung in Hessen entschieden, um das Risiko einer Ansteckung mit dem Corona-Virus zu verringern. Nur noch die Gruppenleiter sind vor Ort. Diejenigen, die normalerweise die Arbeit anleiten und die Mitarbeiter unterstützen, sind in den Werkstätten gerade auf sich gestellt. Und die Mitarbeiter? Die bleiben zuhause – entweder in ihren Familien oder in einer Wohneinrichtung.
Wann wieder zur Arbeit?
Manche verstehen, was los ist, warum sie nicht an die Arbeit gehen dürfen, warum es viele neue Regeln gibt, die sie einhalten müssen. Andere wiederum verstehen das überhaupt nicht. Peter zum Beispiel arbeitet in eigentlich in den Hirzenhainer Werkstätten in Merkenfritz. Jeden Tag fragt er, ob er heute wieder zur Arbeit gehen kann. Ihm fehlt der Halt, die Struktur. Und damit ist er nicht allein. Die Menschen fragen ihre Betreuer und täglich gehen zig Anrufe und E-Mails in der Geschäftsstelle der bhw ein: „Wann darf ich wieder zur Arbeit?“ Das kann allerdings zurzeit niemand beantworten. Vorerst, bis zunächst 4. Mai, gilt das Betretungsverbot.
Abwechslungsreiche Angebote
Ilona, die in den Wetterauer Werkstätten in der Montagegruppe arbeitet, ist zurzeit einfach nur langweilig. Sie ist Fußballfan von Eintracht Frankfurt, ihr Zimmer im Herbert-Rüfer-Haus in Friedberg ist mit dem Eintracht-Adler ausgestattet. Der Fußball fehlt ihr, die Arbeit in den Wetterauer Werkstätten und der Kontakt zu ihren Kollegen. Und das Singen im bhw-Chor „Friedberger Nachtigallen“ fehlt ihr auch. Dafür hat Chorleiterin Heike Melchior jetzt eine Lösung gefunden: Das erste offene Balkon- und Fenstersingen hat stattgefunden. „Über sieben Brücken musst du gehen“ erschallte aus dem Vorgarten des Herbert-Rüfer-Hauses, wo die Chorleiterin, die selbst zur Risikogruppe gehört und sich daher anderen nicht nähern darf, mit dem Mikro vorsang und von dem Gitarristen begleitet wurde. „Wir wollen das offene Singen jetzt öfter anbieten, solange die Proben ausfallen müssen“, sagt Melchior. Musik sei schließlich Balsam für die Seele – in schwierigen Zeiten erst recht.
Die Arbeit kommt ins Wohnheim
Kreative Lösungen sind gefragt, um den Bewohnern in den Wohneinrichtungen den Alltag in dieser Krisenzeit zu erleichtern. Die Gruppenleiter aus den Werkstätten bringen die Arbeit zum Beispiel zu den Mitarbeitern. In der Wohnanlage in Butzbach zum Beispiel werden Gummidichtungen montiert. Der 24-jährige Sahin macht mit beim „Home-Working“. Normalerweise arbeitet er im Textildruck in den Wetterauer Werkstätten. Am liebsten bedruckt er T-Shirts. Jetzt setzt er gemeinsam mit seinen Mitbewohnern in Butzbach die Dichtungen zusammen. Diese Arbeit macht er sonst nicht. Sie ist ok, macht ihm aber nicht so viel Spaß wie sein Hobby: hübsche bunte Perlen zu Armbändern verarbeiten. Die meisten davon bekommt seine Freundin Luisa. Die kann er zurzeit nicht sehen, genauso wenig wie seinen besten Freund und Arbeitskollegen Francesco. Mit dem kann er nur telefonieren. „Mir gefällt es besser, persönlich mit ihm zu sprechen“, sagt Sahin.
Die Menschen fehlen
Persönliche Kontakte sind zurzeit stark eingeschränkt. Um die Gesundheit der Bewohner und der Angestellten zu schützen, gilt in den Wohneinrichtungen der bhw ein strenges Besuchsverbot. Die Bereichsleiterin Wohnen und Justiziarin der bhw, Karina Kuhl, erklärt: „Wir wollen vermeiden, dass sich ein Bewohner unserer Einrichtungen mit dem Virus infiziert und viele andere ansteckt. Unsere Klienten gehören fast alle der Risikogruppe an. Deshalb halten wir die Regelungen penibel ein. Außer den Bewohnern und dem Personal darf niemand die Einrichtungen betreten, das betrifft leider auch Eltern und Angehörige.“ Sogenannte Fensterbesuche und virtuelle Kontakte ermöglicht die bhw den Bewohnern. Telefonieren gehört selbstverständlich zum Alltag. Das Persönliche, die Nähe fehlt vielen trotzdem. Michael zum Beispiel ist ehrenamtlich sehr engagiert. Er gehört dem ökumenischen Beirat in Butzbach an, besucht normalerweise regelmäßig Gottesdienste aller Konfessionen. Jetzt bleibt ihm nur das stille Gebet. Er ist dankbar für Anrufe und Hilfsangebote. Aber er sagt: „Die Menschen fehlen!“ Schade findet er auch, dass seine Arbeit im Seniorenbeirat brach liegt. Zusammen mit anderen Butzbachern ist es ihm ein Anliegen, die Stadt barrierefrei zu machen. Der Beirat arbeitet mit dem Bürgermeister zusammen, Michael ist diese Arbeit sehr wichtig. „Wegen Corona können wir damit gerade nicht weitermachen“, sagt er. Stattdessen beschäftigt er sich mit Dingen, für die er normalerweise keine Zeit findet. „Aufräumen zum Beispiel“, sagt er mit einem Augenzwinkern. Er ist froh, dass er sich wenigstens im Freien mit seinem Vater treffen kann. Sie gehen zusammen spazieren, unterhalten sich von Auge zu Auge, nicht bloß über eine Leitung. Telefonieren ist auch ok für Michael. Das macht er mit seiner Mutter, die als Pfarrerin gerade in ihrer Gemeinde sehr präsent sein muss. Und er telefoniert mit seinen Freunden und Arbeitskollegen. Daher weiß er auch, dass viele seiner Kollegen sich nach dem normalen Tagesablauf sehnen.
Freie Zeit genießen
Für Sabrina gilt das nicht. Die 31-Jährige genießt die freie Zeit. Normalerweise arbeitet sie in der Besteckverpackung in den Reichelsheimer Werkstätten. Mit dem Bus fährt sie morgens von der Wohnanlage aus nach Weckesheim. Dort wechselt sie zuerst ihre Schuhe, zieht die Arbeitskleidung an. Sie wäscht sich gründlich die Hände und desinfiziert sie. Dann sind Handschuhe und Mundschutz dran. Für Sabrina gehört Schutzkleidung zum Alltag. Denn das Besteck und die Servietten, die sie zusammen mit ihren Kollegen für Krankenhäuser verpackt, erfordern strenge Hygienemaßnahmen. Statt an der Sortiermaschine sitzt Sabrina zurzeit gern im Innenhof auf einer Bank in der Sonne und hört Musik. Die No Angels schallen aus ihrem MP3-Player. Nur dass sie ihre Geschwister und ihren Freund nicht treffen kann, das findet sie schade.
Das schöne Wetter der vergangenen Wochen konnte auch Christian genießen. Er fährt gern Fahrrad. Dazu hat er nun, da er nicht arbeiten muss, viel mehr Zeit. Er kocht gern und geht auch viel spazieren. Die Krankengymnastik, die für ihn so wichtig ist, fällt aber zurzeit aus. Stattdessen macht er in seiner Mietwohnung Kraft und Dehnübungen. Normalerweise steht er morgens um fünf Uhr auf und fährt um 6:23 Uhr mit dem Zug nach Friedberg. Von dort geht es mit dem Bus in die Wetterauer Werkstätten. Auch Christian arbeitet im Textildruck, meistens an der Stickmaschine, hier stellt er alles ein, bestückt die Maschine mit dem passenden Garn, setzt den Stickrahmen ein und kontrolliert den Arbeitsvorgang. Er freut sich, wenn die Kunden kommen, um die Bestellungen abzuholen, und mit dem Ergebnis zufrieden sind. Er arbeitet Hand in Hand mit seiner „Chefin“, der Gruppenleiterin. Die vermisst er zurzeit sehr, genau wie seine Mutter, seine beiden Geschwister und seine Nichten. „Ich freue mich, wenn ich nach der Krise meinen Bruder wieder treffen kann“, sagt Christian.
Ungewissheit verunsichert
Das Leben in Zeiten von Corona hat viele Facetten. Für die rund 240 Bewohner der unterschiedlichen Wohnformen, die die bhw im gesamten Wetteraukreis unterhält, ist derzeit die Ungewissheit am schlimmsten. Sie sind verunsichert, weil ihre gewohnten Strukturen auf den Kopf gestellt wurden. Und weil nicht alle die Gründe dafür verstehen. Das anfängliche Gefühl von Urlaub, das manche erlebt haben, weicht allmählich der Sorge vor der Zukunft. Schließlich kann derzeit noch keiner sagen, wie das Leben mit Corona weitergehen wird.