Um sich ein Bild über die Arbeit von Menschen mit Unterstützungsbedarf zu machen, besuchte die hessische Ministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten, Lucia Puttrich, jüngst die Behindertenhilfe Wetteraukreis gGmbH (bhw).
Teilhabe an Arbeit ermöglichen
Im Haus am Landgrafenteich in Nidda, wo der Berufsbildungsbereich der bhw beheimatet ist, war die Aufregung groß: Wenn die Staatsministerin kommt, wollen alle ihre Arbeit präsentieren. Denn Menschen mit geistiger Behinderung haben insgesamt keine große Lobby in Politik. Oft werden Veränderungen für diese Menschen beschlossen, ohne dass ihre Belange berücksichtigt werden. Eine aktuelle öffentliche Debatte zeigt genau das: Es gibt Stimmen, die die Abschaffung des Systems „Werkstatt für Menschen mit Behinderung“ fordern. Aus Sicht der bhw sind die Werkstätten dagegen ein essentieller Bestandteil des inklusiven Arbeitsmarktes. Staatsministerin Puttrich wollte sich nun selbst ein Bild davon machen, auf welchen Wegen Teilhabe an Arbeit ermöglicht werden kann. Auf Einladung von bhw-Geschäftsführerin Eva Reichert war sie deshalb zusammen mit dem Bürgermeister der Stadt Nidda, Thorsten Eberhard, ins Haus am Landgrafenteich gekommen.
Vielfältige Wege zum inklusiven Arbeiten
Dort wurden sie von den Teilnehmern der Teilqualifizierung Hauswirtschaft mit frischer Holunderblütenlimonade empfangen. „Die Teilqualifizierungen sind ein Angebot einer beruflichen Bildungsmaßnahme für die Klienten, die an Ausbildungen zu Helferberufen angelehnt und inhaltlich mit den Kammern abgestimmt sind. Teilnehmer, die eine Teilqualifikation erfolgreich abschließen, erhalten ein offizielles Zertifikat, mit dem sie sich auf dem ersten Arbeitsmarkt bewerben können“, informierte Eva Reichert. Die bhw bietet die Teilqualifizierung an zum Hauswirtschaftshelfer, zum Gartenhelfer, zum Holzverarbeitungshelfer und zum Gebäudereinigungshelfer. Die praktischen Inhalte der Bildungsmaßnahmen werden in den Werkstätten der bhw vermittelt. Für die theoretischen Inhalte kooperiert die bhw mit den Beruflichen Schulen am Gradierwerk in Bad Nauheim und der Beruflichen Schule Oberhessen. Der theoretische Unterricht findet im Haus am Landgrafenteich statt, sodass die Staatsministerin Puttrich und Bürgermeister Eberhard sich auch davon ein Bild machen und mit den Teilnehmern persönlich sprechen konnten.
Werkstätten: Soziale Komponente
„Die Behindertenhilfe Wetteraukreis leistet hervorragende Arbeit. Es gibt viele gute Argumente für die Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Für mich ist aber vor allem die soziale Komponente wichtig. Arbeit und Ausbildung haben immer auch etwas mit Teilhabe an der Gesellschaft zu tun. Von den Mitmenschen akzeptiert und angenommen werden, wie man eben ist, individuelle Unterstützung beim Lernen und Arbeiten zu bekommen und gleichzeitig etwas Sinnvolles zu machen, ist für mich die eigentliche Bedeutung der Werkstätten“, betonte Lucia Puttrich am Rande ihres Besuches.
Einblicke in die Praxis
Anschließend zeigten Mitarbeiter aus den einzelnen Werkstätten der bhw den Gästen ihre Arbeit.
Martin Müller aus der Holzwerkstatt der bhw in Hirzenhain erklärte der Staatsministerin, aus welchen Bestandteilen das Insektenhotel besteht, das in der Holzwerkstatt produziert und verkauft wird. Mitarbeiter aus der Elektroaltgeräte-Entsorgungswerkstatt demontierten einen Computer fachgerecht, Mitarbeiter aus den Reichelsheimer Werkstätten zeigten filigrane Montagearbeiten. Sehr unterschiedliche Aufgaben für Menschen mit sehr individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten wurden präsentiert. Die Mitarbeiter waren sehr stolz, ihre Arbeiten vorstellen zu können und mit der Staatsministerin und dem Niddaer Bürgermeister ins Gespräch zu kommen. „Wahrgenommen zu werden, ist für Menschen mit Behinderung unglaublich wichtig“, weiß Lucia Puttrich noch aus Zeiten, in denen sie in der Firma ihres Vaters gearbeitet hat und viele Berührungspunkte mit den Hirzenhainer Werkstätten der bhw hatte. „Die Mitarbeiter sind stolz auf ihre Arbeit. Es geht ihnen darum, einen eigenen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten, ein Teil davon zu sein“, sagte sie. Eva Reichert bestätigte das: „In den Werkstätten leisten die Menschen eine wichtige Arbeit. Sie wickeln echte Aufträge ab, das ist keine Beschäftigungstherapie. In den Werkstätten können die Menschen an Arbeit teilhaben.“ Gleichzeitig betonte Reichert, dass die Werkstätten nur ein Teil des Angebotes sind. „Es gibt noch viele andere Wege zur beruflichen Teilhabe: die Teilqualifizierungen, betriebsintegrierte Beschäftigung, Inklusionsunternehmen sind Beispiele. Wir begleiten jeden Klienten auf seinem ganz individuellen Weg ins Berufsleben.“ Manche Klienten könnten auf dem ersten Arbeitsmarkt bestehen, manche bräuchten den geschützten Rahmen einer Werkstatt, so die Geschäftsführerin der bhw. Frau Puttrich brachte es auf den Punkt: „Es geht darum, jeden Menschen so anzunehmen, wie er ist.“Leichte Sprache: Wichtig für Teilhabe
Dazu gehört ebenfalls, dass alle Menschen die Möglichkeit erhalten, Informationen selbstständig zu erfassen, Texte lesen zu können und die Inhalte zu verstehen. Das ist das Anliegen des Wetterauer Büros für Leichte Sprache der bhw. Hier werden Texte aller Art in die Leichte Sprache übersetzt und von einer Prüfgruppe auf Lesbarkeit, Verständlichkeit und Eindeutigkeit hin geprüft. Kirsten Luckau, René Gnadl und Marco Maul haben die Ausbildung zu Prüfern gemacht und arbeiten im Büro für Leichte Sprache. Sie erzählten Staatsministerin Lucia Puttrich und Bürgermeister Thorsten Eberhard, für wen die Leichte Sprache wichtig ist und wie eine Prüfung abläuft. Die Staatsministerin zeigte sich sehr interessiert. „Informationen so darzustellen, dass jeder sie einfacher verstehen kann, ist eine Kunst“, sagte sie. Die Leichte Sprache sei sowohl für Menschen mit geistigen Einschränkungen als auch für Menschen, die noch nicht so gut deutsch sprechen, und für Menschen mit eingeschränkten Sehfähigkeiten enorm wichtig. „Es geht immer darum, dass alle Menschen Teil dieser Gesellschaft sind und dass wir Wege bereiten müssen, wie wir jeden bestmöglich integrieren und unterstützen können“, betonte Puttrich. Sie bedankte sich für die Einblicke in das individuelle Arbeitsleben von Menschen mit Unterstützungsbedarf und nahm viele Eindrücke mit nach Wiesbaden.