Wie wichtig sind Werkstätten für Menschen mit Behinderung und wie gerecht ist die Bezahlung? Diesen Fragen ging jüngst die sozialpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Hessischen Landtag Lisa Gnadl nach. Sie besuchte zusammen mit Monika Schermuly vom Hirzenhainer SPD Ortsverein die Hirzenhainer Werkstätten der Behindertenhilfe Wetteraukreis (bhw).
Teilhabe an Arbeit
In den Hirzenhainer Werkstätten der bhw arbeiten 85 Menschen mit geistigen Behinderungen und mit seelischen oder psychischen Beeinträchtigungen. In der angegliederten Tagesförderstätte werden 30 Menschen mit schwerst-mehrfach Behinderung gefördert. Die Klienten kommen täglich mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit dem Fahrdienst in die Werkstätten, arbeiten Kundenaufträge mit hoher Qualität ab und haben dadurch Teil an Arbeit. „Die Menschen haben eine Aufgabe, nehmen am gesellschaftlichen Leben teil und erfahren Wertschätzung“, weiß Lisa Gnadl.
Vielfältige Arbeitsangebote
Beim Rundgang durch die Werkstätten konnte sie sich davon überzeugen, wie vielfältig die Arbeitsangebote für die Klienten sind. In der Verpackung wurden beispielsweise Papiertüten zu einer bestimmten Anzahl gebündelt oder Brillenbauteile abgezählt, verpackt und etikettiert. Die Mitarbeiter zeigten stolz, wie sie mit einer Nähmaschine Kederleisten an dicke Plastikfolien nähen. In der Holzwerkstatt der bhw präsentierten die Mitarbeiter und Gruppenleiter ein großes Insektenhotel und erläuterten die Arbeitsschritte, die immer einen Förderzweck erfüllen. „Bei jedem einzelnen Handgriff erlernen oder festigen die Klienten eine Fähigkeit. Bei uns geht es nicht vorrangig um die Produktion, die natürlich auch wichtig ist. Noch wichtiger ist aber, dass die Klienten individuell gefördert werden“, erklärte Tony Hunting, Gruppenleiter in der Holzwerkstatt.
Inklusives Arbeiten
Im Gespräch mit der Geschäftsführerin der bhw, Eva Reichert, und dem Leiter des Bereichs Gestaltung des Tages, Andreas Grau, erfuhren Gnadl und Schermuly, dass die Werkstätten nur ein Teil des Arbeitsangebotes für Menschen mit Einschränkungen sind. „Die bhw geht viele Wege, um den Klienten die Teilhabe an Arbeit zu ermöglichen. Die Klienten können sich in verschiedenen Bereichen qualifizieren. Wir ermöglichen Praktika auf dem ersten Arbeitsmarkt und begleiten betriebsintegrierte Beschäftigung. Wir haben ein Inklusionsunternehmen gegründet und planen weitere. Ein guter Mix macht’s aus. Die Werkstätten gehören zum inklusiven Arbeiten dazu. Sie bieten den Menschen, die das brauchen, einen Rahmen, Halt und Struktur“, betonte Eva Reichert: „Würden die Werkstätten für Menschen mit Behinderung abgeschafft, wie in einer aktuellen öffentlichen Debatte diskutiert, würden viele Menschen durch das Raster fallen und hätten keine Möglichkeit zur Teilhabe an Arbeit. Denn der erste Arbeitsmarkt ist nicht für alle Klienten geeignet.“
Werkstattlohn: überholte Systematik?
Gnadl kennt die öffentliche Diskussion, die auch die Einführung des Mindestlohns in den Werkstätten fordert. „Es fühlt sich für die Klienten, die in einer Werkstatt arbeiten, so an, als würden sie weniger als den Mindestlohn verdienen“, gab sie zu bedenken. Das Arbeitsentgelt, das im Rahmen eines Werkstattvertrages monatlich gezahlt wird, setzt sich aus mehreren Komponenten zusammen: dem Arbeitsförderungsgeld, dem Grundbetrag und einem individuellen Steigerungsbetrag. Grundbetrag und Steigerungsbetrag müssen in der Werkstatt erwirtschaftet werden. Werkstätten sind verpflichtet, mindestens 70 Prozent des Geldes, das sie erwirtschaften, an die Werkstattmitarbeiter auszuzahlen. Den Grundbetrag und das Arbeitsförderungsgeld erhalten sie unabhängig von ihrer Leistung. Der Betrag, der auf der monatlichen Lohnabrechnung steht, ist also tatsächlich deutlich niedriger als der Mindestlohn. Doch gleichzeitig erhalten die Mitarbeitenden in den Werkstätten weitere Leistungen, die in der Debatte nahezu unberücksichtigt bleiben. Es werden Sozialversicherungsbeiträge gezahlt – ohne Arbeitnehmeranteil. Die Klienten haben keine Fahrtkosten zur Arbeit, denn die werden erstattet. Sie können in den Werkstätten während der Arbeitszeit an sogenannten arbeitsbegleitenden Maßnahmen teilnehmen: Das sind zum Beispiel Sport- und Kunstangebote oder Kurse wie „Gesund leben“ und „Sicher und selbstständig im Straßenverkehr“. „Das sind alles Leistungen, die im Gesamtpaket enthalten, aber auf dem Lohnzettel nicht zu finden sind“, erklärte Andreas Grau.
Wichtiger Vorteil: Rentenanspruch
Der allergrößte Teil der Menschen, die in den Werkstätten arbeiten, erhalten Grundsicherung. Das Arbeitsentgelt wird unter Berücksichtigung von Freibeträgen auf die Grundsicherung angerechnet. Je höher das Arbeitsentgelt ausfällt, desto geringer ist der Grundsicherungs-Betrag. „Mit einem höheren Arbeitsentgelt wäre den meisten Mitarbeitenden nur bedingt geholfen“, darauf wies Andreas Grau hin. Als wichtigsten Vorteil des aktuellen Entgeltsystems gegenüber der Zahlung des Mindestlohns hob er jedoch den Rentenanspruch hervor: „Nach 20 Jahren haben die Mitarbeitenden einen Anspruch auf EU-Rente. Es werden Rentenbeiträge in Höhe von 80 Prozent der gesetzlich festgelegten Bezugsgröße gezahlt. Die Rente der Mitarbeitenden orientiert sich also am Durchschnittsentgelt der gesetzlichen Rentenversicherung, das 2022 bei 3.290 Euro liegt. Entsprechend hoch sind die Renten der Mitarbeitenden. Auf Renten in dieser Höhe könnten die Mitarbeitenden mit dem Mindestlohn niemals kommen“, so Grau.
Als eine Lösung könnte laut Lisa Gnadl die Forderung der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) der Werkstätten für Menschen mit Behinderung gesehen werden. Die BAG will ein System entwickeln, das die Auszahlung aller Leistungen an Werkstattmitarbeiter bündelt. „So hätten die Leute einen besseren Überblick über ihre finanziellen Mittel und würden sich damit besser fühlen“, sagte sie. Gerade für Menschen mit geistiger Behinderung sei es derzeit schwer nachzuvollziehen, aus welchem Topf sie welches Geld erhalten. Betrachtet man nur den Werkstattslohn, sei der Frust mancher Mitarbeitenden nachvollziehbar. „Ich bin gespannt auf die Ergebnisse der aktuell noch laufenden Studie des Bundesarbeitsministeriums und werde mich gerne in die weitere Debatte um die Werkstätten für Menschen mit Behinderung auch mit den Erfahrungen aus dem Besuch in Hirzenhain einbringen.“